Liebe Fest-Gemeinde! Zusammen heute zurück und nach vorn blicken, erinnern und feiern. Ich feiere mit einer kleinen Verlegenheit mit. Denn Sie wissen viel besser Bescheid über die Jahre und die Gegenwart in diesem Gotteshaus, das sind Sie selbst. Fast so viele Jahre in einer Diktatur wie in einer Demokratie hat dieses gastlich-warmherzige Gotteshaus erlebt. Pfarrpersonen kamen und gingen. Die Gemeinschaft im Geist Jesu Christi blieb. Ich würde also noch viel lieber Ihnen zuhören als umgekehrt. Darum will ich wenigstens einmal nachfragen und hoffe später noch mehr in den Gesprächen zu hören: Wer von Ihnen ist in diesem Haus der Liebe Gottes getauft worden? Wer konfirmiert? Wer getraut? Wer hat hier schon einmal beim Krippenspiel mitgemacht? Wer hat hier schon einmal einen Menschen getroffen, der ihm oder ihr für das ganze restliche Leben sehr wichtig geworden ist? Wer hat hier Freundschaften von Dauer geschlossen? Wer hat hier schon einmal wertvolles Wissen zur Gemeinde und zum Haus gesammelt und bekannt gemacht? Wer hat in diesem Gotteshaus schonmal ganz bewusst für sich beschlossen: Ich will mich in dieser Gemeinde engagieren, ich habe ein paar Gaben dabei, die vielleicht gut gebraucht werden könnten! Auch wenn 70 Jahre im Angesicht der Ewigkeit und angesichts des Alters so mancher Kirche in Brandenburg quietschjung ist, hier waren es kostbare 70 Jahre, in denen Sie nämlich als Gemeinde Zeugen von Glaube, Liebe, Hoffnung wurden! Und die Freude darüber, dass Sie da und auch ohne großen Kirchturm nicht zu übersehen sind – ein Zeichen im Ort – mit Strahlkraft. Auch wenn wir uns vielleicht noch nicht näher kennen, Sie alle, uns miteinander verbindet ein Auftrag, unsere Hingabe, unsere Verwurzelung in Glauben, Hoffnung, Liebe. Die Liebe aber ist die größte unter ihnen. Und darum noch einmal ganz ernst gemeint und gleich erklärt sich auch warum: Geliebte Festgemeinde! Eine Briefnotiz aus der frühesten Christenheit, die in den vergangenen 70 Jahren sicherlich auch in diesem Haus viele Male gelesen, gehört und auch besungen worden ist; das Wort von Liebe, die Gott ist, hat gestärkt und getröstet, es hat Traupaare vielleicht begleitet oder Menschen, die Abschied nehmen mussten. Eltern und Paten haben sich vielleicht entschieden, aus diesem Wort einen einzelnen Taufspruch zu wählen für ihr Kind. Oder das Wort von der Liebe wurde für die eine, den anderen zum Konfirmationsspruch. Ich kann mir das gar nicht anders vorstellen. Von der Liebe Gottes hören wir an diesem Denk- und Dankbarkeitstag noch einmal mehr. Aus dem ersten Brief des Johannes: 1. Joh 4,7-12
Gott ist Liebe… ein Glaubensspitzen-Satz! Und übrigens ich sage es gleich vorweg: Dieser Satz hat eine Menge mit einem Zebrastreifen zu tun. Erzähle ich gleich. Jedenfalls zu einem spitzenmäßig schönen Festwochenende gehört auch ein Spitzenglaubenssatz: Gott ist Liebe! Moment – Eine Person kann Liebe haben, geben, spüren, teilen, aber Liebe sein? Bei Gott ist so vieles anders, und doch ist Gott so wirklich und wirkungsreich menschlich geworden, in seinem Kind, dass sich da schon die Frage stellt: wo sind eigentlich wir und Gott uns nah, vielleicht sogar näher als wir bislang noch meinten..? Gott ist Liebe.. Ob der Satz denn so gelten kann und wie er gelten kann und was er für einen einzelnen Menschen, eine Gemeinschaft zum Klingen bringt. Das ist viel diskutiert. Ein Theologe des 20. Jahrhunderts, Eberhard Jüngel, der hat mit Blick auf diesen Satz gesagt: Da muss man doch fragen: Nicht Wie oder was ist Gott, sondern Wo ist Gott? Eigentlich müsste und könnte man noch genauer sagen und fragen: Wo ist Gott nach der Auferstehung? Mit diesem Theologen geht die Antwort zunächst so: Gott kommt zu uns Menschen. Gott zieht es zu denen hin, die er geschaffen hat. Gott möchte ankommen bei seinen geliebten Geschöpfen, uns eingeschlossen. Wo also ist Gott – kommt, kommt an. Kommt uns nah. Schwebt nicht über uns, wie ein Bussard oder Storch überm Kirchendach, sondern ist und will gar nichts anderes sein als unter uns. Gott braucht dafür nicht zwingend ein eigenes Haus. Aber so ein Gotteshaus ist ein Bauwerk der Liebe, die unter uns sein will, erfahrbar. Und dann zeigt so ein Gotteshaus die Spuren, die Liebesspuren Gottes, Zeugnisse davon, wie sehr Gott unter uns sein möchte – sichtbar in Zeichen, Symbolen, Farben, vom Teppich bis zum Holzdach, weitererzählt in Geschichten und Begegnungen, von denen die Mauern, Fenster, Bänke dieses Hauses heute und auch morgen wispern können. Ein Gotteshaus ist nicht irgendein Raum, sondern ein Ort, an dem Gott zu uns Menschen kommt. Wo Gott ankommt. Gott kann an vielen Orten mehr ankommen. Aber wo Gott ankommt, da haben Menschen Generationen hindurch immer wieder neu erfahren, da ist nicht nur Liebe, da entsteht auch eine Sprache der Liebe. Eine? Mehrere Sprachen der Liebe. Fünf sind es wenigstens. Die lassen sich an einer Hand merken. Eine ist die Sprache der Berührung, eine andere Weise, durch die die Liebe sprechen kann, das sind Geschenke. Die dritte Sprache der Liebe, das sind Taten im Einsatz für andere, dienend ohne auf Entschädigung zu setzen. Die vierte Sprache der Liebe ist das Teilen von Zeit, die dadurch zur besonderen gemeinsamen Zeit wird. Die fünfte Sprache der Liebe – das sind die vielen wertschätzenden und anerkennenden Worte und Gesten, die wir füreinander haben können. Manch einer spricht die eine, manche die andere Sprache der Liebe stärker an. Die einen gehen eher darin auf, ihre Liebe durch Geschenke zu vermitteln, die anderen mehr im Teilen von Zeit. Welche Sprache der Liebe auch immer Ihnen persönlich liegt, eines macht unser Brief blitzklar: Wie unterschiedlich wir auch sprechen und zeigen, dass wir lieben, hören wir nicht damit auf. Sondern fangen immer wieder neu damit an. Wenn es für uns als geliebte Kinder Gottes eine Aufgabe gibt, dann die: Fangen wir immer wieder mit der Sprache der Liebe an. Ich schätze, niemand damals und heute war so naiv zu meinen, mit der Liebe immer wieder anzufangen, sei ein Selbstläufer! Es braucht Übung, sich liebevoll-trotzig gegen Ermüdung, sogar Zynismus und Verhöhnung stark zu machen. Geübt werden kann auch die Liebe dort, wo Differenzen entstehen, vielleicht sogar Konflikt. Eine Liebe im Streit, die nichts verkleistert oder unter den Teppich kehrt. Wer ehrlich liebt, streitet auch ehrlich und mit Respekt für den Anderen. Es ist den Streitenden aber geboten, die Sonne nicht über ihrem Krach untergehen zu lassen. Es gehört einiges dazu, im Gegner den Freund, die Schwester, den Nächsten zu erkennen. Niemand anderes begegnet dir darin als Gott. Nur scheint es so viele Gründe in dieser Welt gegen das Lieben zu geben! Viele hundert Jahre nach dem Johannesbrief heißt es: Du sollst ja deinen Nächsten und Fernsten nicht mögen, sondern lieben! Dazu braucht es Übung, die uns durch Hand und Herz geht. Übung macht die Liebe. Liebe hat nur dann eine Chance, wenn sie getan wird. Und dann kommen wir untereinander an, wie Gott ankommt. Dann werden wir wie ein offenes Buch, in dem die Menschen, ob sie wollen oder nicht, erkennen, ja fast lesen können über Gottes erste Leidenschaft und Herzens-Weite für seine Geschöpfe. Wir sind ein offenes Buch und zeigen, wie Gottes Hingabe durch unsere Hingabe hindurchgeht. Wir sind ein offenes Buch und keine abgeschlossene Wagenburg, wir sind ein offenes Buch, das davon erzählen kann, wie Gott mit uns schon jetzt und hier an einer liebevolleren, freundlicheren, friedlicheren Welt arbeitet. Wenn die Gemeinde unter diesem Dach zusammenkommt, erinnert sie sich genau daran. Und woran erinnert sie sich noch? Ich stelle mir vor: Sommer 53. Ein Jahr Bauzeit war rum. Und gut drei Jahre nach ihrer Gründung hatte die DDR trotz der von Ulbricht propagierten wirtschaftlichen Überlegenheit gegenüber dem Westen damit zu kämpfen, die Menschen halbwegs stabil zu versorgen. Die Ostdeutschen sollten sogar für weniger Geld härter arbeiten. Solche Schärfe in der staatlichen Unterdrückung löste Widerstand aus. Im Mai 1953 waren in ostdeutschen Gefängnissen 66000 Menschen, doppelt so viele wie noch im Jahr zuvor. Und während hier tapfer am Kirchbau Hand angelegt wurde, stiegen die Preise für Lebensmittel dramatisch an. Als Ulbricht dann im Frühsommer 1953 die Arbeitsquoten erneut um 10 Prozent anhob, muss der Bogen überspannt gewesen sein. Der 17. Juni! Verhaftungen und zahlreiche Todesopfer waren die Folge! Und die Kirchen? Beim Historiker Andreas Stegemann habe ich gelernt: Der Schock des 17. Juni 1953 führte dazu, dass die SED noch gründlicher über ihr Verhältnis zu den Kirchen nachdachte und ihre Kirchenpolitik anders aufstellte. Die Antikirchen-Maßnahmen sollten effizienter werden. Wieder also mehr Verfolgung! Viele Nadelstiche, Zersetzung, das Erfinden von Ersatzriten, das Schaffen eines riesigen Genehmigungs- und Behördenwusts, um alles zu bremsen, was Gemeinden tun wollten. Da kann so ein Gotteshaus zum seelischen Schutzraum für Menschen werden. Knapp zehn Jahre war das Gotteshaus im Gebrauch, da wurde die Welt berührt von Martin Luther King und seinem Traum. 1963! Du musst deine Gegner und die, die dich hassen, nicht mögen, aber sie lieben. Und die ihn hassten und fürchteten, wollten ihn tot sehen. Sein Traum war nicht tot zu kriegen. Nochmals zehn Jahre später – 1973 – da wagten sich die Kirchen aus den europäischen Ländern auf ein Gemeinsames zu verständigen, Einheit trotz verschiedener Glaubenspraxis. Einheit, weil doch eins in Christus, sogar durch den eisernen Vorhang hindurch. Das Dokument dieser Zeit, die Leuenberger Konkordie steht heute noch im Gesangbuch. Ein wunderbares Zeugnis davon, christliche europäische Gemeinschaft praktisch zu leben. Trotzig gegen die ideologischen Widerstände. Der aufrichtige Trotzdem-Geist der christlichen Gemeinden in der DDR verband sich wieder zehn Jahre später mit der Sehnsucht nach Frieden, Gerechtigkeit und einer heilenden Schöpfung, die damals schon so schwer geschunden war. 1983, als Borgsdorf das Dreißigjährige feierte, da ging von Dresden der Ruf aus: Frieden, Gerechtigkeit, Bewahrung der Schöpfung. Jetzt! Das wird auch Menschen hier bewegt und berührt haben. Und dann Zeichen und Wunder sahen wir geschehn.. Eine neue Zeit nach dem Bankrott der Diktatur! Millionenfaches Aufatmen, aufrechtes Gehen und Aufstehen! Auch hier in dieser Gemeinde. 14 Jahre später war Ihre Kirche schon ein halbes Jahrhundert alt. Und doch noch immer ein junger Hüpfer unter den Kirchbauten unserer Region. Wie viele Friedensgebete sind enthalten in diesem durchbeteten Raum? Wir brauchen sie gerade mehr denn je. Wir brauchen das Gebet, das uns stärkt für unsere Aufgabe, sorgend und schützend für diejenigen da zu sein, die fliehen mussten, da zu sein für die Vereinzelten, für Menschen, die in Einzelfällen bedroht sind von möglicherweise viel zu vorschnellen Abschiebungen. Aus dem Gebet kommt die Kraft zur Fürsorge. Geübte Liebe, die immer wieder neu anfängt! Hier kann man das erleben bis in die Fluchtwohnung hinein. Wohin wird Gott seine Kirche führen über diese Zeit hinaus? Der Zebrastreifen – Sie erinnern sich. Ich vermute, Sie alle schätzen ihn an riskanten Straßen und lassen sich gern darauf von hier nach da führen. Dieser Zebrastreifen, diese Schutzerfindung für den Straßenverkehr wird nämlich auch 70 Jahre! Er sorgt für den Schutz der Schwächeren, die keine dicke Knautschzone haben. Und sorgt somit für etwas mehr Gerechtigkeit im Straßenverkehr. Es rührt mir das Herz, wenn ich die kleinen Schulanfänger dieser Tag stolz und sicher über die Zebrasteifen zur Schule stapfen sehe. Wir haben gehört: Gott hat uns einen sicheren Weg zu ihm hin ermöglicht über die Abgründe hinweg. Hat zuerst geliebt. Auf diesem für uns schon ausgelegten Pfad gehen wir. Wie auf einem sicheren Zebrastreifen. Und dieser Raum einer betenden Gemeinde ist so etwas wie ein Zebrastreifen – schützend für alle, die nicht die dickste Knautschzone haben. Gott weiß, wohin uns die kommenden Wege führen. Wege, die durch rasante Veränderungen führen, stehen an. Wir werden behütet sein auf diesen Wegen, wie auf Zebrastreifen. Die wirkliche Veränderung kann bei uns beginnen, eine neue Form der Nachfolge, neu wie die Erstklässler in der Spur der Liebe lasst uns gehen. Wir werden wachsen – in der Liebe! Amen.